Unendlich



Der große und mächtige König, so heißt es, hat Dich in einen Kerker geworfen.
 Warum kann niemand sagen. Es würde auch niemand wagen, nachzufragen, 
denn der König, so heißt es, duldet kein Nachfragen. Eine solche Frage wäre 
auch, von ihrer Gefährlichkeit ganz abgesehen, ziemlich überflüssig, denn der 
König, so heißt es, hat niemandem je eine befriedigende Antwort gegeben.
 Solange dies dem König beliebt, wirst Du also in diesem Kerker bleiben, und
 den Grund dafür wirst Du nie erfahren. 
Du aber bist Mathematiker, und als solcher dem König durchaus von Nutzen.
 Worin genau dieser Nutzen besteht, weiß niemand, doch dass es einen solchen
 gibt, darin besteht kein Zweifel, denn sonst würde er Dich nicht an seinem Hof 
dulden, und sei es auch nur in seinem Kerker. Du bist also durchaus nicht so 
nutzlos wie Du denkst. Erst kürzlich hast Du eine Zahl entdeckt, die den Durchmesser 
eines Kreises ins Verhältnis setzt zu dessen Umfang. Selbstverständlich 
ist eine solche Zahl schon aus ihrer Natur heraus vollkommen überflüssig, denn 
niemand weiß aus ihr einen Nutzen zu ziehen. Dennoch war der König über
 diese Entdeckung so erfreut, dass er Dir ein Angebot gemacht hat: 
“Schreibst Du mir diese Zahl auf, von ihrem Anfang bis zu ihrem
Ende, so wirst Du frei sein. Verwehrst Du mir jedoch diesen Wunsch, 
so wirst Du sterben.“ 
Seit jenem Tag schreibst Du ohne Unterbrechung, gönnst Dir weder Schlaf noch 
Essen noch irgendein Verlangen, welches Deiner großen Aufgabe im Weg stehen 
könnte, und bist Tag und Nacht bemüht, dem Wunsch des Königs nachzukommen.
 Papierstapel häufen sich in Deiner Zelle, alle Wände des Kerkers sind schon 
voll geschrieben, doch Dein Ziel ist Dir noch so fern wie am Anfang. Selbst wenn 
Du alle Steine des königlichen Palastes mit Deinen Zahlen fülltest, alle Mauern,
 alle Wände, den Boden und jeden kleinsten Papierfetzen, könntest Du es
 niemals erreichen.
 So wirst Du bis ans Ende Deines Lebens in diesem dunklen Kerker bleiben 
und schreiben. Vielleicht, wenn Du die Zeit zum Nachdenken findest, wirst Du 
Dich fragen warum. Doch darauf gibt es keine Antwort.

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