Besuch eines Fremden

Ein Fremder klopft an meine Tür. Selbstverständlich öffne ich nicht. Wer würde schon einem Fremden öffnen? Das wäre leichtsinnig, wenn nicht gar gefährlich, selbst wenn man nichts zu verbergen hätte. Stattdessen schaue ich mir den unerwarteten Besucher durchs Fenster an. Er sieht nicht aus wie einer, der beabsichtigt, Schaden anzurichten, auch nicht wie einer, der gekommen ist, um sich zu nehmen was ihm nicht gehört, obwohl man das einem Menschen nicht immer auf den ersten Blick ansieht, schon gar nicht durch eine verschmutzte Fensterscheibe. Allerdings würde so einer nicht anklopfen, sondern einfach hereinstürmen, vielleicht durch einen Hintereingang. Sein Klopfen weist also darauf hin, dass die Absichten des Fremden ehrenwert sind. Vielleicht will er sich nur ein wenig umschauen, vielleicht auch eine Weile bleiben. Selbstverständlich öffne ich die Tür trotzdem nicht, ich öffne sie grundsätzlich nicht, schon gar nicht einem Fremden.  Seine verstrauenswürdige Erscheinung bewegt mich aber doch dazu, das Fenster zu öffnen, um mich ein bisschen mit ihm zu unterhalten.

„Ich möchte Dein Haus sehen“, sagt der Fremde freundlich, aber bestimmt.

„Du siehst es bereits“, erwidere ich, „es steht vor Dir.“

„Gewiss“, antwortet der Fremde, „doch ich möchte es von innen sehen.“

Da ich ihn aber nicht hineinlassen will, beginnt er, Vermutungen über das Innenleben meines Hauses anzustellen. Diese Vermutungen ärgern mich. Wie kann er von der Fassade auf das Innere schließen? Natürlich gleicht mein Haus von außen den Umliegenden. Ich musste es so bauen, schon wegen der Behörden, es muss doch ins Stadtbild passen, und erst recht wegen der Nachbarn, die ein unpassendes Haus nicht akzeptieren würden. Doch das kann ich dem Fremden nicht erklären, denn er weiss nicht, dass es innen ganz anders aussieht, was, wie ich allerdings zugeben muss, nicht seine Schuld ist, denn ich habe ihn ja nicht eingelassen.

Für einen kurzen Moment träume ich davon, diese Tür zu öffnen und ihm die Wahrheit zu zeigen. Doch ich schiebe den Traum beiseite. Er würde es nicht verstehen, und überhaupt ist es mein Haus, es geht niemanden etwas an, schon gar nicht diesen Fremden.

Er fragt mich, warum ich Angst vor ihm habe, es gebe doch keinen Grund. Vielleicht ist es aber auch gar nicht der Fremde, vor dem ich Angst habe, sondern die Erkenntnis, dass mein Haus leer ist, weil hier schon lange keiner mehr wohnt. Ich schon gar nicht.

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